- Essays -
Jack London auf der Roamer

Ein Seemann in der Kiste

Gedanken zu Jack London 
Essay von R.Wissdorf 
Meine erste Begegnung mit Jack London hatte ich im Keller meiner Eltern. Er lag in einem riesigen Karton unter einem Stapel verstaubter Bücher, die mein Vater irgendwann ausgemustert hatte, weil das Regal zu voll wurde. Es waren samt und sonders Leinenausgaben, auch von meinem Erzeuger schon in Antiquariaten aufgestöbert, weil er sich keine neuen Bücher leisten konnte. Da gab es zentnerweise Schätze, die mich, damals zwölfjährig, die Welt der Literatur entdecken ließen (nachdem ich in der katholischen Pfarrbibliothek den Jugendbuchschrank bereits vollständig umgepflügt hatte). Und so fanden sich in der Wunderkiste so illustre Namen wie Andre Gide, Herbert Frank, Jean Paul Sartre und eben auch Jack London. „Der Seewolf" war ein Titel, der mich am meisten faszinierte. Aber außer einem seltsam anmutenden Meerestier konnte ich mir nichts darunter vorstellen. Das war nämlich der Nachteil der leinengebundenen antiquarischen Ausgaben: es gab keinen Umschlagstext, keine Bilder, keinerlei Angaben, die einem die Entscheidung erleichterten, den Schinken nun anzufangen oder nicht. Es blieb nur eines: reinlesen. Und das tat ich. Und schon der erste Satz schlug mich in seinen Bann:"Ich weiß kaum, wo beginnen, wenn ich zuweilen auch im Scherz Charley Furuseth alle Schuld gebe." 
 
Jetzt wird sich jeder fragen, was so besonderes an diesem Satz ist. Sicher war mir damals auch überhaupt nicht bewußt, was mich an diesem Satz bewog, bei der Stange zu bleiben. Heute sagt mir mein literarisch geschulter analytischer Verstand: Hier wird eine bedeutende und vielschichtige Erzählung angekündigt (..ich weiß nicht wo beginnen), es wird vorausgesagt, daß die Geschichte gut ausgeht (..wenn ich zuweilen auch im Scherz), es wird von vornherein ein Charakter in seinen ersten Grundzügen skizziert (der Mann hat Freunde, ist also in ein soziales Umfeld eingebunden, welches nachvollziehbar ist) und es ist klar, daß es spannend wird, denn er hat sicher einiges erdulden müssen (er gibt Charley die „Schuld" an Ereignissen). 
 
Sicher, wer heute als Newcomer einen Roman mit einem solchen Beginn einem Lektor anbieten würde, der landete damit mit tödlicher Präzision im Papierkorb, aber für die Zeit, in der ich zu lesen begann, war dies ein recht erfrischender Anfang. Ich habe den Seewolf dann verschlungen, mehrmals gelesen, über und über mit Anmerkungen und infantilen Kritzeleien geziert - meine Freunde genötigt, den Roman ebenfalls zu lesen und gefälligst genauso toll zu finden wie ich, kurz: ich saugte diesen Stoff in mich auf, inhalierte ihn und war, ich muß es zu meiner Schande gestehen, von der Person Larsens sehr viel mehr angetan und fasziniert, als von der ziselierten und gepuderten Persönlichkeit van Weydens, mochte er am Ende des Buches auch noch so sehr zum Manne werden. 
 
Was mich in den Bann zog, war - neben seiner abenteuerlichen Romantik - eine Weltanschauung, die endlich frei war, von den moralisierenden Fesseln meines (mütterlicherseits) katholischen Umfeldes mit all seinen lügnerischen Tröstungen. Heute weiß ich sehr wohl, daß Jack London sein Alter Ego eher in die Seele eines Larsen versenkte und sicher nicht in die eines van Weyden. Wie Larsen kam auch er aus ärmlichsten Verhältnissen und hatte sich unter größter Mühsal hochgekämpft - und dabei einen ungeheuerlichen Bildungshunger entwickelt, der ihn weit über den Durchschnitt emporhob. Wolf Larsen kapitulierte vor seinem eigenen Intellekt und verfluchte den Tag, an dem er das erste Buch aufschlug, London dagegen entwickelte sich weiter und wurde zu einem Martin Eden. Wahrscheinlich ist in dieser Figur, die am Ende des Buches Selbstmord begeht, der Urgrund für die Gerüchteküche zu finden, die beharrlich behauptet, London sei dem Beispiel seiner Romanfigur gefolgt. 
 
Wolf Larsen besitzt den Mut, der grausamen Wahrheit des Lebens ins Gesicht zu sehen: das Leben ist nichts weiter als ein Ferment, welches gärt und vergeht, unbarmherzig den Naturgesetzen folgend. Jede kulturelle Leistung ist nichts weiter als der Versuch, gewaltsam die Augen zu schließen, vor einer Welt, die sich dem Streben des Einzelnen gegenüber als kalt erweist. Es gehört eine Menge Stärke dazu, eine solche Weltanschauung zu leben und trotzdem Ideale zu entwickeln. 
Jack Londons Sozialismus, geboren aus reiner Menschenliebe, brauchte keinen Gott, um sich segnen zu lassen. Keine Belohnung wartete im Jenseits auf gute Taten, um als Motiv für barmherziges Handeln herzuhalten, seine Tugend war eine rein biologische. 
 
Wenn von mir verlangt würde, ein Synonym für seinen Charakter zu finden, welches ihn vollständig beschreibt, so wäre dies „unbändige Lebenswut". Sein Lebenslauf, gezeichnet von harten Brüchen und Wendungen, ist selbst so romanhaft und abenteuerlich, daß es mich wundert, es bisher noch nicht verfilmt gesehen zu haben. Biographien über ihn zu schreiben erweist sich als äußerst undankbares Unterfangen, denn die besten Biographien hat er selbst über sich geschrieben, angefangen vom „Schienenstrang" über „Menschen am Abgrund" und "Martin Eden", bis hin zu „John Barleycorn". Eine weitere Biographie kann da nur abschreiben. 
 
Sein Fleiß und sein Output waren enorm. Wenn man bedenkt, daß er im Alter von 28 seine erste Kurzgeschichte veröffentlichte und mit 29 seinen ersten Roman (Ruf der Wildnis), so blieben ihm nur insgesamt 12 Jahre, um über 50 Bücher zu schreiben. Dazu gehört mehr als Besessenheit, dazu gehört vor allem Disziplin und Sendungsbewußtsein.  Schade, daß er heute in Deutschland in der Hauptsache als Jugendbuchautor gesehen wird; sein Name erscheint fast nur noch im Zusammenhang mit „Ruf der Wildnis", „Wolfsblut" und „Jerry, der Insulaner". Die weitaus höhere Anzahl seiner „Erwachsenenliteratur" ist größtenteils in Vergessenheit geraten, stellenweise sogar vollständig verschollen, wie z.B. „Das Mordbüro". Jack London schrieb in jedem nur erdenklichen Genre: Abenteuer, Science-Fiction, Fantasy und Action. Er schrieb Gesellschaftsromane genauso stilsicher wie Satiren und Reiseberichte. Meistens aber handelten seine Werke von der Auseinandersetzung des Menschen mit seinen Schwächen, seinen Hoffnungen und Ängsten, letztendlich vom Kampf um die eigene Natur. Seine Abneigung gegen das sogenannte „Bildungsbürgertum" war unverkennbar und sicher von seiner eigenen Geschichte geprägt: er war ein „Selfmademan" und als solcher damals wohl nur in den USA denkbar. In unserem verkalkten Europa, wäre er vermutlich auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Aber immerhin: trotz aller Larmoyanz des Bewunderers, der seinen Heros nicht mehr genug gewürdigt sieht, muß ich zufrieden konstatieren, daß es einige seiner Werke immerhin noch mehr als achtzig Jahre nach seinem Tod zu kaufen gibt. Ob das einem Grisham oder Gordon auch gelingen wird? Wohl kaum. 
 
Jack London hat in seinen nur vierzig Jahren viele Leben gelebt. Das eines armen Bauernburschen, das eines Fabrikarbeiters, eines Schmugglers, Seemannes, Vagabunden. Er war Goldsucher, Reporter und Student. Am Schluß eine Berühmtheit, ein Schriftsteller und Sozialpolitiker, gleichzeitig Naturbursche und Philosoph. Jedes dieser Leben, lebte er als wäre es sein einziges, mit voller Hingabe. Dabei war seine Existenz oft von Krankheit und Schwächen gezeichnet, von Alkoholismus und Genußsucht, ein Wunder, daß er kein Spieler war. Aber ich möchte fast behaupten, daß er kaum eine Droge an sich hat vorbeigehen lassen. Im Grunde war er verzweifelt, traurig, deprimiert, verwundert, daß jeder erreichte Traum sich irgendwann genauso fade anfühlt, wie das Dasein, welches den Traum gebar. Wie jeder andere sehnte auch er sich nach Schlichtheit, nach Ordnung, nach einer ihn schützenden Gesetzmäßigkeit. Er hätte es bestimmt auch gern gehabt, daß ein Gott seine Hand über ihn halten und ihn hinter dem Tor des Todes liebevoll begrüßen würde. Doch seine Intelligenz verspottete diesen Kinderglauben; so sehr sein Herz sich diesen auch wünschte. 
 
Zeit seines Lebens hatte er mit dem Freitod als letzte willentliche Entscheidungsmöglichkeit des Menschen kokettiert. So sehr, daß die Nachwelt wie selbstverständlich daran glaubte. Aber genau jener Gedanke dürfte ihn wohl machtvoll davon abgehalten haben, es zu tun: daß es danach nämlich unwiderruflich vorbei sein würde. Jack London war eine Kämpfernatur. Sein Tod war sicher alles andere als freiwillig. 
co. Reinhard Wissdorf / StoryNet 1996 | Jack London Home | Essays | eMail